Systemik der Seele – Ein ganzheitliches Ressourcenmodell

Ein gutes Modell soll in der Lage sein, die Komplexität realer Erscheinungen der Welt in Begriffen und Darstellungen zu verdichten, zu spiegeln und dadurch zur Reflexion zu bringen. Modelle, die die menschliche Seele betrachten, stehen in diesem Sinne vor einer besonderen Herausforderung. Denn die Seele verpflichtet uns immer aufs Ganze. Seelische Bezüge sind mit dem gesamten Leben verbundene Phänomene – auf Ganzheit angelegte Erscheinungen unserer Existenz.

„Wenn die Seele nicht von Anfang an dabei ist, wird sie nicht am Ende auftauchen.“ (James Hillman)

Die bewusste Verwendung des Seelenbegriffs ist daher eine Entscheidung zu Gunsten eines über das Materielle weit hinausreichenden Spektrums menschlichen Wirkens und Erlebens. Der Begriff „Seele“ ist ein Archetyp, der nicht auf den logischen Beweis abzielt, sondern auf den inneren Zusammenhang der Lebensbewegungen – sowohl in geistigen, körperlichen, emotionalen, sozialen als auch Jenseitsbezügen. Seele ist das systemische Prinzip schlechthin – sie ist wie die innere Achse, an der entlang sich die bewussten Sphären mit den unbewussten Feldern verbinden und von der unserer Leben in seiner Gesamtheit gehalten und bewegt wird. All diese Bewegungen werden von der vitalen Kraft getragen, die im Flussbett der Seele verläuft und damit die zentrale Ressource eines Menschen ist. Die „anima vitalis“ ist daher kein Abstraktum, sondern ein lebendes Symbol. Ist die vitale Kraft im Fluss, gelingt auch das Leben; Kommunikation, Kreativität, Gemeinschaft, Finanzen, Partnerschaft, der freie Fluss vitaler Kraft steht für die lebende Brücke zwischen Innen und Außen, für freien und ungestörten Selbstausdruck, der meist mit einem Gefühl des Wachsens und der Zufriedenheit verbunden ist. Steckt die vitale Kraft jedoch fest, spüren wir körperliche als auch mentale Blockaden, Widerstand von innen wie außen, drehen uns im Kreis oder treten auf der Stelle.

Das Modell der Systemik der Seele ist keine die Logik und Naturwissenschaften ausschließendes Metaphysikum – sondern, ganz im Gegenteil, eine über die engen Fachgrenzen hinausgehende konsequente Erweiterung des Forschungs- und Arbeitsrahmens in Bezug auf menschliches Potenzial. Die so ausgedehnte Interpretationsfolie soll im Denken und Wahrnehmen neue Bezüge ermöglichen, ganz im Sinne einer interdisziplinären und integrativen Betrachtungsweise: anders fragen, neuartig betrachten, weiter verbinden. Die vitale Kraft wird darin zum phänomenologischen Leitbegriff, der, so wie die Seele selbst, bewegungsorientiert ausgerichtet ist. Unabhängig von der jeweiligen Erkenntnistiefe und -weite, steht mit ihr ein am Leben orientierter, jederzeit beobachtbarer wie auch fühlbarer Maßstab zur Verfügung. Bewegung sowie ihr Gegenteil als Nicht-Bewegung sind aus der Perspektive des Lebens die Gradmesser für potentia, nämlich die Fähigkeit zum Wachstum und zur Entwicklung.

Im Fokus der Ressourcenarbeit stehen daher auch die Quellen, durch die unser Potenzial nachhaltig gestört wird. In Bezug auf einen Menschen sind dies Vorkommnisse, die weit über das erträgliche Maß hinausgehen – existenzielle Grenzerfahrungen, die den gesamten Organismus und damit auch die vitale Kraft erstarren lassen. Diese hinterlassen beim Menschen und insbesondere beim Kinde ein Trauma (gr. Wunde), auf das die Seele mit ihrer ureigenen Überlebensstrategie antwortet – der Spaltung: Der traumatisierte Anteil wird mitsamt seiner Schockenergie im Unbewussten eingefroren und von einem ebenfalls unbewussten Überlebensanteil davon zurückgehalten, dass Bewusstsein erneut mit Schmerz und Chaos zu überfluten.

Die Aufhebung der seelischen Spaltung und die damit verbundene Herauslösung der darin eingefrorenen vitalen Kraft bilden das Zentrum einer nachhaltigen Ressourcenarbeit.

Der Bezugskomplex aus Trauma- und Überlebensstrukturen erfasst den gesamten Organismus: das autonome Nervensystem samt Faszien und Weichgewebe stehen infolge der eingefrorenen Schockladung unter Dauerstress, ein Zustand, der sich auch in den für Denken und Fühlen verantwortlichen Hirnstrukturen abbildet. Der innere Druck wird dann durch die Überlebensstruktur noch zusätzlich erhöht: da eine erneute Traumatisierung verhindert werden soll, geht auch von ihr ein unbewusster Vermeidungsdrang in Form von ständigem Angetriebensein oder emotionaler wie körperlicher Verpanzerung aus.

Aus den Spaltungsfolgen kann sich so eine Innere Gestalt bilden – eine abgespaltene und damit autonome Teilpersönlichkeit, die ihr unbewusstes Leitmotiv des Überlebens mit Zwang und Drang in das Bewusstsein projiziert. Sie belebt unsere inneren Monologe, färbt unsere Wahrnehmung und formt sogar unsere äußere Erscheinung. Ihr stärkster projektionsbildender Faktor ist dabei das Ungelebte, im Trauma vereitelte, zersprengte und unterdrückte, wovon gleichzeitig eine starke Sehnsucht ausgeht, es wiederherzustellen, auszugleichen, zu sühnen oder gar zu rächen. Mit einem derartigen Kompensationszwang aufgeladen, erzeugen die Inneren Gestalten eine mächtige Spannung im Unbewussten, von der sich permanent Pfeile auf das Bewusstsein entladen – und es regelmäßig durchbrechen, sei es in Form von emotionalen Ausbrüchen, extremen Haltungen, lähmender Leere, Überflutung, Nicht-Denken, Fehl- und Nichtentscheidungen oder schlicht als eine sich dauerhaft ausbreitende Grundstimmung. Das Unbewusste wird so zum Scharfschützen. Sein Ziel ist, die seelische Wunde in Resonanz zu bringen, um dadurch die Bewusstwerdung vorzubereiten. Aus der Perspektive der Seele gibt es daher keine Zufälle, sondern nur fällige Themen, die mit großer Anziehung oder Widerstand in den Lebensthemen und -ereignissen gespiegelt werden.

Da der Bezugsrahmen der Seele nicht an die lineare Zeit gebunden ist, bleibt die Spaltung samt dem daran gebundenen historischen Kontext ohne ihre Integration über Generationen hinweg im familiären Unbewussten aufgehoben. Vor dem Hintergrund der Verletzlichkeit eines Menschen und insbesondere eines Kindes ergibt sich so das Normalmaß einer Persönlichkeit: vielschichtig, aber mit dominanten und latent zwanghaften Zügen und Tendenzen, dennoch paradox und damit wesentlich kreativ – eher eine eigene innere Gesellschaft, die von der inneren Dynamik und den seelischen Leitmotiven biografischer und transgenerationaler Innerer Gestalten orchestriert wird.

Das historische, geistige als auch kulturelle Erbe wirkt im zeitlosen Raum des familiären Unbewussten als das Aktuellste im Aktuellen (vgl. Riechers/Ress, Trauma und Blockaden im Coaching, Abb. 1.3).

In Summe entsteht ein Vielheitsmodell der Seele, das der Natur des Unbewussten folgt und dadurch die widersprüchlichen Tendenzen unserer Persönlichkeit widerspruchsfrei in Bezug setzten kann. Auch die Ressourcen gehen aus diesem Blickwinkel weit über das biografische Reservoir hinaus und verlängern sich in einen quasi infiniten Bereich des zeitlos Transgenerationalen. Das gesamte Potenzial eines Menschen entspricht somit seinem Vermögen der Integration seines Ahnenerbes – ein für das moderne Bewusstsein ungewohnte Perspektive, die jedoch im Einklang mit der epigenetischen Forschung steht.

Das hier abgebildete Ressourcenmodell betreibt also eine dem seelischen Maß angepasste „komplexitätserhaltende Komplexitätsreduktion“ (Helm Stierlin): Der Blick für die Gesamtheit zusammenhängender Lebensbewegungen soll erhalten bleiben, ohne sich in den unzähligen Möglichkeiten menschlicher Konstellationen und Ereignisketten zu verlieren. Die verwendeten Begriffe sollen anregen, Bezüge herzustellen, die weit über das Individuum hinaus gehen und es zu seiner Geschichte und Herkunft in Verbindung setzen. Das ganzheitliche Denken in Bezügen, also eine angewandte Systemik der Seele, befreit sich so aus der ideologischen Enge des diesseitigen Materialismus und wird so selbst zur Ressource im Geist.

Die zehn Elemente des Ressourcenmodells:

Vitale Kraft – ist das allen Lebewesen innewohnende Prinzip der Auslebung und Verwirklichung ihres Potenzials. Die Selbstwerdung geht einher mit der Befreiung von Blockaden und Hindernissen, die dem freien Fluss vitaler Kraft im Wege stehen.

Körper – als Träger der vitalen Kraft und ihr physisches Flussbett, insbesondere im autonomen Nervensystem. Der Körper ist die fundamentale Grundlage menschlicher Existenz und damit die prima materia in jeder Ressourcenarbeit.

Geist – als die Quelle der Unterscheidungskraft und damit differenzierten Wahrnehmung. Die Fähigkeit, die Natur in abstrakten Begriffen und Modellen begreifbar zu machen, gibt dem Geist die Rolle des spiritus creator – sowohl der kulturellen als auch der technologischen Entwicklung.

Seele – als eine mehrdimensionale Wirklichkeit und lebendiges Symbol für den gesamten Wirk- und Erfahrungsraum eines Lebewesens. Sie trägt die vitale Kraft, die in ihr zum Träger und Beweger der Lebensbewegungen wird. Als nicht-lineares Organisationsprinzip ist sie mit den Funktionen des Unbewussten verbunden und vereint darin sowohl unsere eigenen Qualitäten, die Erfahrungen unserer Ahnen als auch die archaischen Kräfte und Strukturen.

Selbst – steht für die personale Ganzheit und damit das vollkommen ausgelebte Potenzial eines Menschen. Es repräsentiert, ebenso wie die Seele, für das Letzte stehende Dinge und ist damit ein Symbol und nie logisch beweisbar (J. Hillman). Das Selbst ist alles, was es sein kann. Das Gefühl der Ganzheit verweist auf die ausgeglichene und integrierte Mitte, die zum Zielbild eines lebenslangen Prozesses der Individuation wird – der Selbstwerdung im Jung’schen Sinne.

Beziehungen – die uns stützen, Heimat geben, aber auch solche, die uns wachsen lassen, ohne zu überfordern. Damit handelt es sich um Beziehungen jenseits von Verstrickungen und Projektionen, die die Regeneration von vitaler Kraft fördern und ihr helfen, sich weiter zu entfalten.

Mission – als die aus dem Selbst heraus gespeiste, freie Hingabe in einer Tätigkeit, die selbst wiederum die Selbstwerdung unterstützt. Ihre erlebte Sinnhaftigkeit fällt mit dem freien Fluss vitaler Kraft zusammen, wodurch sie zur alltäglichen Ressource wird. Die eigene Mission ist damit streng genommen keine Arbeit, sondern lebendiges Tun aus der Mitte des Daseins heraus.

Unbewusstes – als Reservoir unserer eigenen bewusstseinsfähigen Erfahrungen sowie verwirklichten Qualitäten unserer Ahnen. Aber auch der Bereich der generationsübergreifenden eingefrorenen traumatischen Schockladungen und davon abgeleiteten Blockaden in Körper, Seele und Geist. Das Unbewusste ist damit die unsichtbare „Schatzkammer der Seele“. 

Bewusstes – als aktive Vorstellung und Glaube von der Welt, die vom bewussten Willen getragen werden; die Willenskraft kann sich jedoch schnell erschöpfen, wenn sie gegen die Motive des Unbewussten ankämpfen muss; die Integration hemmender unbewusster Haltungen ist daher eine die vitale Kraft erhaltende Ressourcenarbeit; zudem hat das integrierte ehemals unbewusste Wissen korrigierende und orientierende Wirkung im Sinne einer Neuausrichtung und Erweiterung des gesamten Denkens.

Innere Gestalten – als die in das Bewusstsein hineinragenden Machtfiguren des Unbewussten. Sie sind die Träger und Beweger der seelischen Leitmotive und damit Schwellenhüter zwischen Bewussten und Unbewussten. Solange ihr unbewusster Wille an den Bezugskomplex von Trauma- und Überlebensstrukturen gebunden ist, wirken sie wie ein Flaschenhals bei der Freigabe der vitalen Kraft. Sie sind daher der konkrete Zugang zu unseren unbewussten Ressourcen.