Wie ein antikes Ideal Führungskräften helfen kann,
das Potenzial der Firma neu zu beflügeln

Ein Essay von
Alexander Nchuchuma Riechers

Die meisten Firmeninhaber und Führungskräfte wünschen sich eine “gute” und dynamische Unternehmenskultur. Häufig sollen dabei die Kunden im Vordergrund stehen, die von engagierten Mitarbeitern exzellent betreut werden. Das Ergebnis sollte am Ende alle glücklich machen – gute Stimmung, hohes Vertrauen, gesundes Wachstum. Ein ambitionierter Anspruch an Führung und Kultur, der in seiner Essenz jedoch einem antiken Ideal entspricht: Mercurius, der vom griechischen Götterboten Hermes weiterentwickelte Gott des Handels. Beflügelter Übermittler guter Nachrichten, der mit Mut und Leichtigkeit auch die schwierigsten Situationen meistert. Einem, dem nie die Energie ausgeht und der spielerisch verhandeln kann – der Prototyp des Unternehmertums. Nicht ohne Grund ziert sein Bild seit Jahrhunderten Börsen, Bankhäuser und Marktplätze – ein kräftiges Symbol, das heute jedoch in Vergessenheit gerät.

Selbstsicher und unaufgeregt in die Zukunft

Warum, so könnte man fragen, soll auch gerade eine Figur aus dem Altertum, Firmen von heute auf die Zukunft vorbereiten? Weil sie nicht altmodisch, sondern zeitlos ist! Und weil Firmen heute mehr denn je von einer Kultur profitieren können, die mit selbstsicherer Unaufgeregtheit einer sich rasant verändernden Welt begegnet. Mut, erfinderische Neugierde und ein Wort, das gilt, sind Tugenden, die weder an einen Trend, eine charismatische Lichtgestalt noch eine Technologie gebunden sind. Das, wofür Mercurius steht, ist ein Archetyp – das Urbild des ehrbaren Kaufmanns. Einer der den Markt versteht, furchtlos Neuland erschließt und somit die Zukunft gestaltet. Gerade in Zeiten massiver Umbrüche, kann uns dieses traditionsreiche Ideal wieder Ruhe und Orientierung geben.

Die ganze Persönlichkeit zählt

Den Mercurius mit Leben zu erfüllen, fordert jedoch mehr als Einsicht und guten Willen. Seine Selbstsicherheit und Leichtigkeit sind Früchte einer ganz und gar verinnerlichten Haltung, die sich von den Füßen bis in die Flügelspitzen durchzieht. Der Archetyp des ehrbaren Kaufmanns steht für Echtheit, die man nicht halbherzig oder oberflächlich erzeugen kann. Hier ist der ganze Mensch gefordert, denn “Archetypen sind Erlebniskomplexe, die schicksalsmäßig eintreten, und zwar beginnt ihr Wirken in unserem persönlichsten Leben“ (C. G. Jung). Konkret hieße das, dem Schicksal bewusst in die Karten spielen und Führungskräfte da in ihrer Entwicklung zu unterstützen, wo die Quelle ihrer Lebendigkeit liegt – in der Tiefe ihrer Persönlichkeit.

Unbewusster Widerstand als verborgenes Potenzial

Die Kultur der Leichtigkeit hat daher auch einen Preis: die Aufgabe der künstlichen Trennung von beruflich und privat, von “rein professionell” und “zu persönlich”. Wer das ganze Potenzial haben will, muss sich auch dem ganzen Menschen widmen – einem Wesen, was sich in seinem Dasein dauerhaft zwischen rationalem Verstand und irrationalen Zwängen, zwischen Gestalten und Zerstören bewegt.

Im Unternehmen zeigt sich diese widersprüchliche Natur des Menschen vor allem in den Widerständen. Nämlich dann, wenn selbst motivierte Profis klare Vorgaben, Strategien oder das offensichtlich Gebotene nicht umsetzen. Diese Form von Widerstand ist anders als das klare “Nein”, denn insgesamt wird viel Energie aufgewendet, ohne dass es zu einer substanziellen Bewegung kommt. Es wird zwar reichlich diskutiert, die Themen drehen sich jedoch im Kreis, oder es läuft zäh. Das ungenutzte Potenzial zeigt sich im Widerstand als verhindernde Kraft. Irgendetwas hält die Beteiligten zurück oder steht zwischen ihnen. Und hier sind wir längst in einem anderen Bereich menschlicher Wirklichkeit angelangt – der Gegenmacht zur Rationalität, dem Unbewussten.

Kulturarbeit ist Chefsache

Die Wiederbelebung des Mercurius ist also ein Weg, der in die unbewusste Struktur der Organisation führt. Genauer gesagt in die unbewussten Ebenen derer, die im System kulturstiftend wirken, den Inhabern und Führungskräften. Ihre Verhaltensweisen haben Vorbildfunktion und färben über die Hierarchie in das gesamte Unternehmen ab. Ihre Widerstände sind ebenso menschlich, haben im Unternehmen jedoch eine massive Hebelwirkung: Fehl- oder Nichtentscheidungen, die die Existenz aufs Spiel setzen können, das „Verschlafen“ von Innovationen, oder Fehlbesetzungen, die ganze Sparten in Schieflage bringen. Nachhaltige Kulturarbeit muss daher bei den Ursachen ansetzen: die unbewussten Widerstände der Leitungsebne auflösen, um das darin zurückgehaltene Potenzial in ermöglichende Kräfte zu verwandeln.

Innere Gestalten als Schlüssel zum unbewussten Potenzial

Hier wird der Weg zum Mercurius höchst individuell und setzt direkt im Unbewussten an. Dank aktueller Erkenntnisse der mehrgenerationalen Traumaarbeit gibt es mittlerweile schnell wirkende Zugänge zu den unbewussten Strukturelementen unserer Seele – den Inneren Gestalten. Ihre Haltungen und Überzeugungen wurden häufig über Generationen hinweg geformt, sind tief in unserer Persönlichkeit eingeprägt und wirken von dort aus unbewusst in Beziehungen und Entscheidungsprozesse hinein. Als Schwellenhüter der Seele, sorgen sie dafür, dass wir alte seelische Verletzungen kaum oder gar nicht mehr bewusst wahrnehmen. Werden sie dennoch durch Menschen oder Ereignisse wieder in Schwingung gebracht, steigt der damit verbundene Schmerz wieder an die Oberfläche. Um dies zu verhindern, werden die Schotten dicht gemacht – unser System will die innere Überflutung vermeiden und zeigt Widerstand – manchmal so stark, dass dieser kurzfristig unser Bewusstsein durchbrechen und unsere Wahrnehmung kontrollieren kann. Seelische Wunden werden damit zum Ausgangspunkt unserer unbewussten Zwänge und blinden Flecke, sowie dem Drang, erneuten Schmerz zu vermeiden. Meist mit Qualitäten, die von Führungskräften sogar erwünscht sind: hohe Auffassungsgabe, starker Wille, Flexibilität, Ausdauer und Härte. Werden sie jedoch von Zwang und Drang angetrieben, erschöpfen sie die Organisation „top down“ und nehmen ihr die Leichtigkeit.

Mit Interesse und Methode zum Mercurius

Der verwandelnde Weg zum Mercurius beginnt daher immer bei den eigenen Inneren Gestalten. Er ist herausfordernd, doch wer hier mutig ist, wird belohnt: Zwang und Drang weichen zugunsten freiem Fluss, sei es in Form von Entscheidungsfreude, klarem Blick, Kreativität, Empathie oder schlicht purer Freude am Tun.

Den Start zu diesem Zielbild kann jede Führungskraft bei sich selbst setzen. Nämlich eine untersuchende Haltung zu den eigenen Widerständen einnehmen. Sie nicht ausblenden oder bekämpfen, sondern die schützende Absicht des Unbewussten dahinter erkennen lernen. Dazu wiederum hilft das tiefe Interesse an der eigenen und der Familienbiografie. Was ist vorgefallen, was soll nie wieder vorkommen, welche Qualitäten haben sich gebildet, welche gingen verloren? Methoden wie Management-Aufstellungen und Voice Dialogue, die direkt mit dem Unbewussten arbeiten, können die eigene Reflexion zusätzlich vertiefen. Sie beleuchten individuell als auch im Führungsteam, wann und wo der unbewusste Wille der Inneren Gestalten der Leichtigkeit und Entschlossenheit des Tuns im Wege steht.

So ein- und aufgestellte Führungskräfte begegnen auch ihren Mitarbeitern mit ehrlichem Interesse. Gespräche dürfen gefahrlos tiefer und bedeutsamer werden, weil das Menschsein der Professionalität vorausgeht. Genau deswegen steigt die Leistungsbereitschaft, denn: „Hier darf ich ganz sein, hier will ich voll leisten!“ Mit dieser Grundeinstellung ist der Weg zum Mercurius nicht mehr weit.


Über den Autor:

Alexander Nchuchuma Riechers, M.A. der Philosophie, Coach und Autor für Persönlichkeitsentwicklung. Im Zentrum seiner Arbeit steht die Systemik der Inneren Gestalten – ein Ansatz, der mit innovativen Methoden direkt im Unbewussten arbeitet. Sein Ziel: frei fließende vitale Kraft. Wie Führungskräfte und Unternehmen davon profitieren können, zeigen zahlreiche Fallbeispiele im aktuellen Buch “Die beseelte Organisation und ihr Geist” (Riechers/Ress, Springer 2019).

Weitere Leuchtfeuer-Artikel gibt es hier