Die 2020er Jahre stehen vor der Tür. Ein guter Moment, um zu überlegen, was es für ein gutes neues Jahrzehnt jetzt braucht.
– ein Neujahrsessay von Alexander Nchuchuma Riechers –
Ein neues Jahrzehnt bricht an und wie zu jeder Zeit sind die Herausforderungen der Zukunft so groß wie nie zuvor. Es ist müßig und unnötig, dunklere Schatten an die Wand zu malen als jene, die sich gegenwärtig bereits abbilden. Denn ihre mächtigen Projektionsflächen beziehen sie von drei großen Themen der Gegenwart: Klimawandel, Migration und einer wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich. Ihre Lichtquelle ist zugleich ihr gemeinsamer Nenner – die Globalisierung. Und da sich an letzterer bald acht Milliarden Menschen beteiligen, werden die dunklen Wolken am Horizont von ganz allein immer größer. Es ist vor diesem Hintergrund wohl keine gewagte These mehr, wenn wir feststellen: Unser Planet ist im Begriff, aus den Fugen zu geraten – unwiederbringlich, wenn wir nicht heute anfangen, radikal zu handeln.
In der Regel würde an dieser Stelle, der dialektisch wie ästhetisch gebotenen Ausgewogenheit wegen, der Hinweis auf die mannigfachen Chancen kommen, die der Menschheit, v.a. in Bezug auf den technologischen Fortschritt, blühen. Nicht alles ist schlecht, vieles hat sich wesentlich verbessert, das Leben ist weniger mühselig usw., ja, auch das ist eine Feststellung wert – doch in Bezug auf die Zukunft der Menschheit ist diese vorerst wenig aussagekräftig. Zum einen, weil sie nur auf eine privilegierte Minderheit unseres Planeten zutrifft und zum anderen, weil sie nichts darüber aussagt, wie Privilegierte und Benachteiligte sich in Zukunft zueinander verhalten werden. Technologie ersetzt keine Ethik, sie ist Mittel zum Zweck – Zwecke, die Menschen schaffen und verantworten.
Im Fokus der nächsten Dekade sollte daher der Zwecksetzer selbst, und zwar der geistige Mensch, stehen. Damit ist explizit nicht der homo oeconomicus als der rationale Nutzenmaximierer gemeint. Denn von Rationalität kann in diesem globalen Vabanquespiel ohnehin keine Rede mehr sein. Nein, Zentrum der Betrachtung und des Diskurses soll nun endlich derjenige Geist werden, der mit Spekulationsgeschäften ganze Volkswirtschaften aufs Spiel setzt; der Geist, der Fluchtursachen nicht bekämpft, sondern anheizt; der Geist, der die ökologische Fahrt gegen die Mauer nicht nur nicht bremst, sondern sogar noch beschleunigt. Dieser Ungeist ist das corpus delicti, das uns zu den Motiven der globalen Geisterfahrt führen soll, und hoffentlich auch dazu, wieder auf die richtige Spur zu kommen. Momentan regiert flächendeckend die Irrationalität, und zwar in einem Ausmaß, dass rationale Gegenmaßnahmen, gutgemeinte Initiativen und berechtigte Demonstrationen kaum Wirkung zeigen. Das todernste Spiel muss daher verlagert werden, nämlich dahin, wo die Partie wirklich ausgetragen wird – auf und zwischen den geistigen Feldern.
Für den modernen Menschen mag diese Betrachtungsweise bereits inneren Widerstand auslösen. Man kann es ihm auch nicht verübeln, da ihm über die letzten 200 Jahre das Geistige und Geistliche kontinuierlich aberzogen worden ist. Der Fortschrittsgeist der Industrialisierung und modernen Wissenschaften hat den einst kleinen Mann erfolgreich gemacht, hat ihn, im wahrsten Sinne des Wortes, vom Boden abheben lassen. Das Formen der Materie wurde zum Erfolgsgarant und damit auch zum Mittelpunkt des Denkens. Das Denken jedoch formt die Wahrnehmung. Und so kommt es, dass wir mit Hilfe von Mikro- und Teleskopen mittlerweile das Kleinste und das Fernste erkennen, aber schon längst nicht mehr den Geist sehen, der hinter einem jeden Ding steht. Im zeitgeistigen Substanzialismus gefangen, haben wir weder vertraute Begriffe noch einen ausgeprägten Sinn für die Kräfte jenseits der Materie. Der ideale Nährboden für alle dunklen und manipulativen Geister, um unreflektiert, unbedacht und damit auch unerkannt zu bleiben.
Das Gegenmittel finden wir in der Antike: Probate spiritus! – Prüfe den Geist! heißt es nicht ohne Grund im ersten Brief des Johannes an die christliche Urgemeinde. Man soll die falschen Propheten an dem Geist erkennen, in dem sie stehen. Und dieser zeigt sich, wie auch bei jedem Baum, an den Früchten. Sie können dem Leben dienen, es nähren und wachsen lassen, oder das Leben bedrohen, auszehren und klein halten. Die Bibel, hier nur stellvertretend für jegliche Weisheitsliteratur des klassischen Altertums, benutzt diese archaische Sprache völlig selbstverständlich für die Deutung weltlicher Phänomene – und sie ist damit nicht wissenschaftsfern, sondern geistesnah.
Der moderne Mensch jedoch, der sich in seinem Selbstverständnis als aufgeklärt und rational bezeichnet, ist nun in die Falle getappt, die man ihm vor langer langer Zeit bereits ausgelegt hatte. Er hat sich von den seelenbelebenden Geistern abgewandt und die Materie zu seinem neuen Gott gemacht. Dies geschah nicht von heute auf morgen, sondern als schleichender Prozess, dessen Auswirkungen nun offenbar werden. Ein genialer Trick, den man der Raffinesse eines Mephisto zuschreiben könnte: der Fortschritt wurde zum Erlöser, der materielle Wohlstand seine Offenbarung. Der Mensch brauchte fortan keinen Allmächtigen mehr, musste nicht mehr länger demütig zu Kreuze kriechen. Eine Kulturrevolution wurde eingeläutet, die von Europa ausgehend, nun in ihren Folgen die ganze Welt erreicht: als wachstumsfixiertes Wirtschaftssystem, als Machbarkeitsparadigma, als Primat des Willens, als Positivismus in den Wissenschaften, als Geisteswissenschaft ohne Geist und als Psychologie ohne Seele.
Die Falle funktioniert nun denkbar einfach: Alles was der Mensch bräuchte, um aus der jetzigen Schieflage wieder herauszukommen, hat er seiner diesseitigen Erlösung zuliebe selbst geopfert – Demut, Bescheidenheit, Ehrfurcht vor der Schöpfung und das Erkennen und Unterscheiden der Geister. Diese Qualitäten sind Kulturgüter, die über Jahrtausende reiften und in wenigen Generationen zugrunde gerichtet wurden. Jetzt zahlen wir den Preis dafür: Wir müssten zur Lösung der globalen und klimatischen Krise sofort handeln, haben aber keinen Zugriff auf die nötigen geistigen Mittel dazu. Wir müssten weniger konsumieren, uns in Verzicht üben – Dinge, die uns schwerfallen, weil wir die Rechnung ohne unsere Seele gemacht haben. Denn als die Seele als verstaubtes metaphysisches Konzept gegen die modernen Naturwissenschaften eingetauscht wurde, hat sich der Mensch seiner transzendenten Grundlage selbst beraubt. Es gelingt ihm nicht mehr, seinen unverhandelbaren und ureigenen Wert als geistig-seelisches Wesen jenseits von Materie, Produktivität und Status zu spüren noch zu pflegen. Wie groß der Raub war und wie umfassend wertvoll die Seele ist, sehen wir nun am Ausmaß des Konsums, der das in den Boden geschlagene Loch füllen soll.
„Wir genügen uns nicht mehr, egal wieviel wir haben. Genau deshalb werden vernünftige Erwägungen nichts bezwecken, solange wir nicht unseren Geist neu ausrichten, unsere Seele wiedergewinnen und mit der archaischen Tiefe verbinden, die wir vor geraumer Zeit abgekappt haben.”
Und wem das alles noch zu wage und herbeikonstruiert wirkt, der soll sich auf die Wirkung und damit auf die Empirie selbst beziehen. Denn Wirklichkeit ist, wie das deutsche Wort besagt, das, was wirkt (C. G. Jung). Der Geist des Materialismus wirkt als Nicht-Denken, Nicht-Handeln, Nicht-Fühlen. Er verführt und benebelt mit seinem Übermaß an Wohlstand. Denn die, die nun handeln müssten, vermögen es nicht. Sie fliegen, fahren und kreuzfahren wie nie zuvor. Sie konsumieren weiter auf Rekordniveau und steigern die Indizes in schwindelerregende Höhen. Keiner stoppt, alle geben Gas. Die selbst gesetzte Logik der Gewinnmaximierung führt in den Kampfmodus, regt zur Verletzung an, von Regeln des Anstandes bis hin zu kriminellen Handlungen. Gier, eine der sieben Todsünden, wird als Anlegerinteresse euphemisiert und zur Ordnung der Finanzmärkte deklariert. Ein in sich korrumpiertes System verspricht den Menschen Glück und Seligkeit – im Lichte der Kollateralschäden ein Hohn an sich, der jedoch gelebte Realität ist.
Doch einige sind dabei, aufzuwachen. Vielen ist klar, dass hier etwas nicht stimmt. Die einstige Kulturrevolution der Moderne kann nicht mehr begeistern, weil sie entgeistert ist. Sie hat sich verselbständigt, ist dem Menschen über den Kopf gewachsen. Sie ist ein eigenes Wesen geworden, was alles tut, um sich zu erhalten. Ihre Strategie heißt Wachstum und Vernetzung, ihr Antrieb ist die Angst, klein, wertlos und unbedeutend zu sein. Erst jetzt werden wir zu den geläuterten Zauberlehrlingen, denn den Geist, den wir damals riefen, scheinen wir trotz ernstgemeinter Anstrengungen, so leicht nicht loszubekommen.
Was also tun? Der Vorschlag: zwei Aktionen, für die ein Jahrzehnt ausreichend sein sollte. Zuerst, mehr Begeisterung zeigen! Und zwar für das geistige Leben und die Kraft, die von ihm ausgeht. Der Zeitgeist ist ein Wesen, dass man ernst nehmen muss, wenn man ihn ernsthaft verändern will. Und dann: Holt euch eure Seelen zurück! Denn wer seine Seele hat, der hat sich selbst – in voller Fülle. Mit diesem geistigen Kapital werden wir die Zukunft ohne Mangel meistern – sicher!
Über den Autor:
Alexander Nchuchuma Riechers ist Philosoph, Coach und Autor in München. Neben der Begleitung von Führungskräften und Teams in Konzernen und Mittelstand schreibt er regelmäßig Artikel in seinem Blog „Leuchtfeuer: Einsichten und Weitsichten für mehr vitale Kraft“. Gesellschaftliche Themen werden im Wechselspiel mit der Seele und dem Unbewussten betrachtet.
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